Der VTi und die kulturelle Aneignung – eine Reflexion
2022 ist der Begriff der «kulturellen Aneignung» (engl. Cultural Appropriation) in der Öffentlichkeit breit diskutiert worden, in den Medien und diversen Fachverbänden. Auch wir vom VTi haben Anfragen bekommen, wie wir zu diesem Thema stehen. Und so scheint nun für uns der richtige Zeitpunkt gekommen, dass wir uns selbstkritisch evaluieren, zu dieser Debatte Stellung nehmen und uns selbst positionieren.
Kulturelle Aneignung
Der Begriff der kulturellen Aneignung stammt aus dem Englischen (Cultural Appropriation), wird in der Musikethnologie schon seit den 1970ern und 80ern diskutiert, und ist aktuell insbesondere durch die von den USA ausgehenden Bewegung «Black Lives Matter» in den öffentlichen Diskurs nach Europa gebracht worden. Zur Erinnerung: «Black Lives Matter» ist eine Bewegung, die 2020 durch den gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd durch die Polizei erneut aufgeflammt ist und seither in den öffentlichen Medien rund um die Welt intensiv diskutiert worden ist. (Für mehr Details s. https://blacklivesmatter.com).
Unter kultureller Aneignung versteht man die Übernahme von Ausdrucksformen oder Artefakten, Geschichte und Wissensformen von Trägern einer anderen Kultur oder Identität, also auch Musik und Tanz, wie wir sie beim VTi pflegen.
Allerdings ist es wichtig zu verstehen, dass im öffentlichen Diskurs ein weiterer wichtiger Aspekt dieser Definition leider oft nicht berücksichtigt wird, nämlich, dass die kulturelle Aneignung immer verbunden ist mit einem soziopolitischen Machtgefälle, also z.B. wenn es sich bei der übernommenen Ausdrucksform um Kulturgut einer nichtdominanten oder Minderheitskultur handelt. Dies kann einerseits aus der Kolonialgeschichte hervorgehen (z.B. indigene Tribes, in Europa: die Sami) oder auf Grund von Unterdrückung einer Minderheitenkultur durch die Mehrheitskultur (in Europa z.B. Roma, Jenische, Travellers etc.).
Ausserdem gehört bei der Definition der kulturellen Aneignung dazu, dass Personen der Mehrheitskulturen diese Praktiken und Artefakte ohne die Genehmigung, Anerkennung oder Entschädigung übernehmen, sie gegebenenfalls ohne Kontext und in stereotypisierter Form imitieren und sie in dieser Form als kommerzielles Produkt (Kommodifizierung) weiterverkaufen.
Beispiel einer Kulturellen Aneignung wäre z.B. ein*e westeuropäische*r Tanzlehrer*in fährt in ein Roma-Dorf irgendwo im Balkan, filmt dort ohne um Erlaubnis zu fragen tanzende Menschen, lernt diese Tänze dann ab Kamera auswendig und fährt dann zurück in sein*ihr Land, um diese rekonstruierten Tänze (ev. ohne weiteren Kontext) an Workshops gegen Bezahlung (und wohlmöglich in vereinfachter Form) weiter zu vermitteln. Solche Praktiken haben in ähnlicher Form leider auch in der VTi-Vergangenheit so oder ähnlich stattgefunden.
Bespiel Grauzone: Musik- und Tanzkurs bei den Roma
Das oben genannte Beispiel ist aus heutiger Sicht natürlich absolut nicht mehr tolerierbar. Trotzdem gibt es immer wieder Situationen, die im Graubereich liegen und die wir als Volkstanz- und Volksmusikliebhaber*innen kritisch reflektieren müssen.
2017 habe ich im nordmazedonischen Roma-Viertel Šutka (Šuto Orizari) bei Skopje einen Musik- und Tanzworkshop besucht, der durch einen in Deutschland lebenden Roma [1] organisiert worden war. Es gab Musik- und Tanzkurse inmitten dieser Roma-Gemeinschaft, Teilnahme an Hochzeiten, eine Beschneidungsfeier und diversen Strassenprozessionen. Teilnehmer*innen waren vorwiegend Westeuropäer*innen und Amerikaner*innen, Dozierende waren Roma. Der gegenseitige Umgang war respektvoll und die Dozierenden waren gerne bereit, gegen einen guten Lohn, ihr kulturelles Wissen weiterzugeben. Es entstanden auch schöne Freundschaften.
Trotzdem kann ich mich an eine Szene erinnern, in der ich mit den Roma-Frauen, die für uns gekocht hatten, zusammensass, während sie Kartoffeln schälten, und mit ihnen (mit Hilfe von Übersetzung) ins Gespräch kam. Dabei frage mich eine Frau: «Was machen denn all diese Menschen mit unserer Musik und unseren Tänzen?»
Eine berechtigte Frage, denn Tatsache ist, dass die meisten Gäste natürlich fleissig filmten, aufnahmen und sich Notizen machten, um nach ihrer Rückkehr mit dieser Musik in Konzerten aufzutreten oder Musik- und Tanzworkshops zu geben. Und wenn man davon ausgeht, dass dieser Wissenstransfer natürlich nur gegen Bezahlung geschieht (Konzerteintritte und Kurskosten), so war die Investition, die den Roma-Dozierenden bezahlt worden war, doch sehr gering im Vergleich zu dem, was die europäischen und amerikanischen Gästen aus diesem Kurs mitnehmen und anschliessend zu Geld machen konnten. [2]
Kultureller Austausch
Die Kulturelle Aneignung grenzt sich vom «Kulturellen Austausch» ab. Hier handelt es sich um das gegenseitige Kennenlernen kultureller Praktiken vom Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, die auf gegenseitigem Respekt beruhen und die vom soziopolitischen Gesichtspunkt her etwa gleich viel Macht haben. Hier wird Musik und Tanz gegen Bezahlung ausgetauscht im gegenseitigen Interesse und zum Vorteil beider Kulturen.
In der Diskussion von 2022 wird dieser Kulturelle Austausch meistens nicht erwähnt oder wird ganz einfach im Zuge der vereinfachten Darstellung von komplexen Vorgängen weggelassen. Diese Trivialisierung schadet nicht nur den Menschen, die Musik und Tänze aus anderen Kulturen erlernen möchten (denn die Idee, dass man nur noch Kulturgut aus seiner eigenen Kultur erlernen sollte, ist ja ebenso problematisch [3]), sie schadet auch Menschen, die ihre Musik und Kultur gerne an Menschen aus anderen Kulturen weitergeben möchten, aus Interesse und da sie damit ihr Brot verdienen möchten und ihre Lebensaufgabe sehen.
Gerade Länder wie Bulgarien oder Georgien legen grossen Wert darauf, dass sich ihre Kulturgüter wie Musik und Tanz weltweit verbreiten. Dozierende dieser Länder werden z.T. sogar von staatlicher Seite her unterstützt und für ihre Arbeit im Ausland mit Preisen und Anerkennungen belohnt.
Reale Beispiele eines Kulturellen Austausches sind z.B., dass ein georgischer Chor, mit dem der VTi regelmässig zu tun hat, an einer 1. Augustaugustfeier in der Schweizer Botschaft in Georgien Schweizer Lieder vorsingen durfte und ebenso ist es schon vorgekommen, dass eine dem VTi nahestehende Schweizerformation, die sich mit bulgarischer Musik beschäftigt, in der bulgarischen Botschaft in der Schweiz vorspielen durfte. Eine georgische Dozentin, die regelmässig beim VTi unterrichtet, hat 2012 von der georgischen Regierung einen Preis erhalten für ihr Engagement bei der Verbreitung der georgischen Kultur im Ausland. Und Kulturreisen, die von hier aus in Zusammenarbeit mit Menschen vor Ort organisiert werden, sind sowohl für Teilnehmende als auch die Menschen der Gastländer sehr bereichernd.
Der VTi im Umgang mit Kultureller Aneignung und Kulturellem Austausch
In den Statuten des VTis steht unter der Rubrik «Zweck»:
«2.1. Der Verein bezweckt die Pflege und Verbreitung von internationalen Volkstänzen und Volksmusik, fördert das gegenseitige Verständnis verschiedener Kulturen und unterstützt die internationale Begegnung und Zusammenarbeit auf Augenhöhe».
Hinter dieser Vision stehen wir. In der konkreten Umsetzung muss der Verein jedoch unterschiedlichste Interessen befriedigen. Demnach legen wir Wert auf:
- eine für Westeuropäer*innen zugängliche Vermittlungsart und Pädagogik durch die Dozierenden
- tiefes kulturelles und technisches Wissen in unterschiedlichen Musik- und Tanzstilen der Kursleiter*innen
- Der Einstieg in neue Musik- und Tanzstile soll Einsteiger*innen ebenso möglich sein, wie das akribische Ausfeilen von stiltypischen Verzierungen, passenden Interpretationen und Improvisationen in den einzelnen Stilen für Fortgeschrittene und Profis
- Die Freude am Musizieren und Tanzen soll im Vordergrund stehen und zur Gemeinschaftsbildung des Vereins beitragen
Um all diese Anforderungen zu erfüllen, setzt der VTi deshalb auf verschiedene kulturelle Brückenbauer*innen, die diesen Wünschen gerecht werden sollen. Die Dozierenden stammen sowohl aus den Kulturen, deren Musik und Tänze vermittelt werden sollen (z.B. Osteuropa) als auch aus unseren Kulturkreisen (Westeuropa), wenn sie sich lange und intensiv nicht nur mit der Musik und den Tänzen anderer Kulturen beschäftigt haben und von kulturellen Insidern als legitime Könner*innen eingeschätzt werden, sondern diese auch mit dem kulturellen Kontext vermitteln können.
Wir arbeiten:
- mit Partner*innen, die aus nicht-westeuropäischen Ländern stammen und ihre Kultur uns mitbringen
- mit westeurpäischen Dozierenden, die sich intensiv mit Kulturgütern aus anderen Kulturen beschäftigt haben
- mit Dozierenden, die zwar ursprünglich aus anderen Kulturen stammen, aber inzwischen in Westeuropa ihre neue Heimat gefunden haben
- mit Dozierenden, die zwar ursprünglich aus Westeuropa stammen, aber in anderen Kulturen ihre neue Heimat gefunden haben
Die Welt ist heute global vernetzt und komplex, und diese Komplexität finden wir bei unseren dozierenden Partner*innen wieder. Um Personen aus unterschiedlichen Kulturen auch Verantwortung und Mitsprache im Vermittlungskontext zu geben, haben wir seit zwei Jahren auch Menschen aus unterschiedlichen (Minderheits-)Kulturen in unseren Organisationskomitees.
Das Allerwichtigste ist uns vom VTi die gegenseitige Freundschaft, die Dozierende und Kursteilnehmer*innen verbindet, die Kommunikation und der gegenseitige Respekt. Und zu diesem gehört auch, dass Kursteilnehmer*innen, wenn sie das in den VTi-Seminaren gelernte Material weitervermitteln (in Konzerten oder Kursen), immer genau deklarieren: wo habe ich was von wem gelernt, so dass die Urheber*innen, die vom Unterrichten und Forschen leben, wenn immer möglich benannt werden.
In diesem Sinne setzt der VTi auf Kulturellen Austausch auf Augenhöhe und bedankt sich bei allen Beteiligten für die gute Zusammenarbeit und das gegenseitige Vertrauen.
Lea Hagmann (Präsidentin) Bern, 2. Januar 2023
[1] In diesem Text werden mit Absicht keine Namen von Privatpersonen genannt.
[2] Natürlich ist dieses Beispiel lange nicht so krass, wie die inzwischen bekannte Tatsache, dass der erfolgreiche Musiker Goran Bregovič sich Roma-Liedern bedient hat, ohne dabei die Urheber zu nennen, diese in populärer Form gespielt und damit Millionen verdient hat, Geld, dass nie zurück an die Roma geflossen ist.
[3] Insbesondere ist diese Vorstellung problematisch, da sie eine sehr essentialistische Sichtweise einnimmt und davon ausgeht, dass jede Kultur nur EINE Volksmusik besitzt (wie sich das der Begründer des Wortes «Volkslied», Johann Gottfried Herdern, 1771 so vorgestellt hat), die sie repräsentiert. Dabei werden Hybridisierungsprozesse, also die Vermischung von Kulturgütern, negiert.